Gedankenverloren stellt die Frau ihre Schüssel hin – setzt sie arglos auf den schmalen Rand eines Basalt-Sarkophags. Vielleicht enthält die Schüssel etwas Hirse, von der die Frau eben auch selbst gegessen hat, im Rahmen eines Rituals zu Ehren der Ahnen, hier, tief unten in der sogenannten Königsgruft von Qatna, so wie es seit Generationen Brauch ist in jener Gesellschaft, die sich die Unterwelt als einen grausamen Ort imaginiert – und alles tut, das Schicksal der Toten durch Zeremonien und kostbare Beigaben zu erleichtern. Kurze Zeit später poltert ein Stuhl die Treppe hinab – jemand muss ihn versehentlich angestossen haben. Dann kracht ein brennender Balken aus Zedernholz in den Schacht vor der Gruft. Der Palast steht in Flammen, die Hethiter machen ihre Drohung wahr und löschen das einst so blühende Stadtkönigtum Qatna in einem Feuermeer aus. Auf die Balken folgen Steine, noch und noch poltern Stücke des Palastes in das Loch, das zur Gruft führt – Dunkelheit macht sich breit.
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Im Gleichgewicht
Die Grabkammern selbst bleiben von der Katastrophe um 1340 v. Chr. unberührt, die Schale hält weiterhin ihr Gleichgewicht auf dem Rand des Sarkophags. Die Hirse zerfällt zu Staub. Die Körper der Toten, deren Fleisch zuvor schon aus hygienischen Gründen im Feuer getrocknet worden war (schliesslich wollte man die Totenfeiern nicht im Verwesungsgeruch begehen), fallen vollends auseinander. Auf die Hethiter folgen die Assyrer, dann die Perser. Alexander der Grosse zieht durch den Orient bis nach Indien. Immer noch steht die Schale da. Rom steigt zur Weltmacht auf und zerbricht an sich selbst – Byzanz inszeniert sich als eine Episode am Bosporus. Marco Polo reist nach China, und Kolumbus entdeckt die Neue Welt. Die Schale steht unbeirrt. Die Elektrizität wird nutzbar gemacht und das Telefon erfunden. Zwei Weltkriege und zwei Atombomben löschen Millionen von Menschenleben aus. Armstrong betritt den Mond, die Beatles preisen LSD. Eisern bleibt die Schale stehen. Am 11. September 2001 erschüttern Terroranschläge in New York den Glauben der Welt an sich selbst – und ein amerikanischer Präsident schüttelt wild den Säbel gegen den Orient, der Planet droht aus den Fugen zu geraten. Die Schüssel macht keinen Wank – in völliger Dunkelheit hält sie weiterhin das Gleichgewicht auf ihrer schmalen Kante aus Basalt. Ein Jahr später jedoch, im November 2002, gibt es plötzlich Lärm am Eingang der Gruft. Erde rieselt, Metall schabt auf Stein, ein Luftzug, und dann, aufgeregt wie ein ängstliches Tier, irrt der Kegel einer Taschenlampe durch diesen Raum, der seit 3500 Jahren kein Licht mehr gesehen hat. Der die Lampe hält, heisst Peter Pfälzner, ist Professor in Tübingen und gräbt seit 1999 mit einem syrisch-deutschen Team den Königspalast von Qatna aus. Was für ein einzigartiger Moment in einem Archäologenleben.
Eine Schale, die sich 3500 Jahre lang auf dem Rand eines Sarkophags im Gleichgewicht hält, das ist ein Wunder – mindestens ebenso wie all die Schätze, welche die Archäologen noch in der Kammer finden. Dass man eine Grabkammer entdeckt, die nie beraubt wurde, die wie eine Zeitkapsel unversehrt die Jahrhunderte überdauert hat, ist überaus selten – ein Glücksfall für die Wissenschaft, die aus den Details, den Sedimenten, dem «Dreck», den Gebrauchsspuren oft mehr Schlüsse über die betreffende Kultur ziehen kann als aus ihren Goldschätzen und Meisterwerken selbst.
Eine unberaubte Grabkammer, das ist wie ein Satz, der vor 3500 Jahren ins Stocken geriet, um endlich weitergesprochen zu werden. Als hätte die Geschichte vor mehr als hundert Generationen eingeatmet, um heute wieder auszuatmen. Was die Archäologen alles im Atem der Geschichte gefunden haben, zeigt jetzt eine prachtvolle Ausstellung im Landesmuseum Stuttgart. Es ist zugleich das erste Mal, dass die Funde aus Qatna ausserhalb des Landes präsentiert werden können.
Die Schau beginnt mit einer multimedialen Einführung in die Geschichte des altsyrischen Königreichs und seiner Nachbarn. Modelle zeigen, wie die Siedlung in der frühen Bronzezeit (2700–2000 v. Chr.) an einem künstlich angelegten See entstand, um dann in der mittleren Bronzezeit (2000–1550 v. Chr.) zu einer richtigen Stadt heranzuwachsen – mit einem zentralen Tempel und Königspalast, mit einem riesigen Zisternenbrunnen, Wohnquartieren, Werkstätten und Verteidigungswällen von 4 Kilometern Länge und 20 Metern Höhe. – Es folgen Dokumente, Objekte und vor allem auch zahlreiche Tontäfelchen aus der Blütezeit Qatnas in der späten Bronzezeit (1550–1340 v. Chr.). Sie illustrieren, wie der Stadtstaat mit der ganzen Welt jener Tage in regem Handelsaustausch stand, wie er durch Heiratspolitik Bündnisse mit anderen Kleinstaaten schloss und doch mehr und mehr in die Konfliktzone zwischen den Grossmächten jener Zeit geriet: dem pharaonischen Ägypten im Süden und dem Reich der Hethiter im Norden.
Typisch asiatisch
Ein Ausstellungsteil illustriert, wie die Ägypter die «elenden Asiaten», also auch die Syrer aus Qatna, sahen, wie sie diese als Typen darstellten mit Kinnbart, schmalen Augenschlitzen und stark verzierten Gewändern. Mit zahlreichen Votivstatuen und Schmuckgegenständen führt die Ausstellung in den Götterhimmel des alten Assyrien ein, wo wir auf Baal (Addu) und Belet (Ischtar/Astarte) treffen, auf «Herr» und «Herrin». Kapitel über die Handelswege und Kriegsschauplätze, über Bevölkerungsgruppen und häusliche Gepflogenheiten, Handwerk und Technik vermitteln ein lebendiges Bild jener Tage. Eine 3-D-Animation lässt uns dann in den königlichen Palast eintreten, wie ihn die Archäologen aus Tübingen rekonstruiert haben: Der Audienzsaal (Halle C) beeindruckte mit seiner schieren Grösse von 36 mal 36 Metern und einer kühnen Dachkonstruktion, die im Wesentlichen von nur gerade vier massiven, wohl 10 bis 12 Meter hohen Säulen getragen wurde. Diese Säulen waren aus Holz und standen auf steinernen Basen, deren Unterbau vor Ort noch gut zu sehen ist: 5 Meter tiefe, mit Kies aufgefüllte Fundamentgruben sollten die Säulen vor der geringsten Bewegung bewahren – ein eindrückliches Beispiel der Ingenieurskunst jener Tage. Im Palast gab es ausserdem einen Thronsaal, Privatgemächer, ein Tontafelarchiv und sogar ein Bad. Auch Fresken wurden gefunden: Bilder von Delphinen und Schildkröten, Palmen und Unterwasserlandschaften, ausgeführt im ägäischen Stil (wie die minoischen Malereien auf Kreta) – ein Symbol für die Weltgewandtheit der Auftraggeber und auch ein Zeichen ihrer weitreichenden Verbindungen.
Scheinbar anstrengungslos
Dann betreten wir einen langen, kahlen Gang. Er führt uns quasi hinab in das unter dem Palast gelegene Königsgrab, dessen Entdeckung im Jahre 2002 hier atmosphärisch nachempfunden ist – mit Taschenlampenlicht, das über die Wände huscht, Fotos und Filmen, die den Zustand des Grabs zum Zeitpunkt seiner Freilegung dokumentieren. Hier stossen wir auch auf ein Bild der Schale, die sich auf dem Rand des Basalt-Sarkophags 35 Jahrhunderte lang im Gleichgewicht hielt. Sie wirkt bescheiden neben all den Grabbeigaben aus Gold und Edelstein, die hier ausgebreitet sind. Da gibt es zum Beispiel die zwei aus Gold gegossenen Entenköpfe: Kaum daumenlang, geben sie doch das Gefieder, die Augen und den leicht geöffneten Schnabel der Tiere in einer Lebendigkeit wieder, die ein eindrückliches Bild des Könnens der Handwerker von Qatna abgibt. Stärker stilisiert sind die Figuren auf dem goldenen Beschlag eines Köchers, der Männer bei der Hirschjagd zeigt. Einer hat einen Bock gefangen und stemmt nun, scheinbar anstrengungslos, die Hinterläufe des Tiers in die Luft – die Jagd als ein Spiel, als ornamentale Geste. Eindrücklich auch ein Löwenköpfchen, das in Qatna aus einem Stück Bernstein geschnitzt wurde, wie er offenbar nur an der Baltischen See zu finden ist – was für Wege in welchen Taschen der Stein wohl genommen haben mag? Prachtvoll auch die Alabastren und Steinamphoren, die Rollsiegel und Prunkwaffen, die wunderbaren Grabhüter aus Basalt sowie der viele Schmuck. Etwa eine Hüftkette aus farbigen Steinen und Goldperlen, in der man sich gerne das Spiel der Bauchmuskeln einer schlanken Tänzerin bei Hofe vorstellen möchte – auch wenn die Kette vielleicht eher einer Königin-Mutter gehörte, die mit dem Schwung ihrer Abdominalfalten notorisch die aus Nordafrika importierten Liebesdiener in die Flucht schlug.
Phantasien – dieses wie jenes. Doch die müssen erlaubt sein in einer Ausstellung, die so üppig daherkommt wie diese Stuttgarter Schau: Die staubtrockene Seite der Archäologie wird hier jedenfalls nicht in den Vordergrund gerückt – im Gegenteil: Man lässt es tüchtig knallen, was manchmal sogar fast ein wenig nach der Peitsche von Indiana Jones tönt. Ganz am Ende der Ausstellung etwa, wo ein Saal dem Untergang der Stadt gewidmet ist. Von Tontäfelchen wissen wir, dass Akizzi, der letzte König von Qatna, sich wider besseren Rat nicht mit den Hethitern verbinden wollte. Er vertraute auf den Pharao, dessen Armee er für mächtiger hielt, und bat die Ägypter in verzweifelten Briefen um Hilfe. Allein der Pharao war das falsche Pferd – und also fielen die Hethiter um 1340 v. Chr. in Qatna ein und brannten den Palast nieder. Durch ein Flammenmeer, das effektvoll auf Bilder der Ruinen projiziert ist, verlassen wir die Schau.
Noch ein Königsgrab
Allerdings wird dies wohl nicht die letzte Qatna-Ausstellung in Deutschland gewesen sein. In diesem Sommer nämlich stiess das Tübinger Team unverhofft auf eine weitere, ebenfalls unversehrte Grabkammer in unmittelbarer Umgebung des Königspalastes. Die Funde sind deutlich älter als die aus der Königsgruft, und die zahlreichen Knochen waren offenbar in Holzkisten verpackt – was möglicherweise den Schluss zulässt, dass es sich um ältere, aus Platzgründen aus der Königsgruft hierher umgebettete Überreste von Mitgliedern der Herrscherfamilie handelt. Genaueres wird die Auswertung der Funde ans Tageslicht bringen, die indes mehrere Jahre in Anspruch nehmen dürfte. – Hätte die Frau, die einst ihre Hirse-Schale auf dem Rand des Sarkophags abstellte, gewusst, dass erst 3500 Jahre später wieder jemand ihr Geschirr in die Hand nehmen würde, was hätte sie wohl getan? Würden wir die Zukunft kennen, unser Leben würde sicher sagenhaft kompliziert.
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